Vanishing Thule

Markus Bühler-Rasom

 Seit 1997 bereise ich die Thule Region. In meinem ersten Projekt ging es um die Ernährung der Inuit. Es brachte mich unter anderem in Regionen zwischen Sisimiut und Ilulissat. In Kopenhagen dokumentierte ich einige Jahre lang das Schicksal der Inuit in Dänemark. Aber es waren die Thule Inuit, die mich wirklich in den Bann zogen, und so begann ich 2010 mit dem Projekt «Vanishing Thule». Das Leben im Hohen Norden ist voller Gegensätze. Das fasziniert mich. Fotografiere ich die Jäger auf dem Eis, könnte man unter den meisten Bildern die Jahreszahl auch einige Jahrhunderte zurücksetzen, es würde kaum einen Unterschied machen. In den Dörfern und in der Stadt Qaanaaq merkt man dagegen gleich, dass die Zeit auch in der Arktis nicht stehen geblieben ist. Beide Lebensformen ─ die auf dem Eis und die im Dorf oder in der Stadt ─ spielen ineinander. Das unbarmherzige Klima der nördlichsten Region der Erde lässt nichts anderes zu. Noch immer bin ich ein Fotograf, der Thule bereist, aber inzwischen ist es mehr als das. Meine Bilder haben sich fast unmerklich zu einer Chronik entwickelt. Auf meiner letzten Reise im Mai 2015 wurde es so offensichtlich wie nie zuvor. Ich bin jungen Leuten begegnet, bei denen ich vor langer Zeit zum Kindergeburtstag eingeladen war. Und anderen, die gerade geboren waren, als ich zum allerersten Mal in Qaanaaq war. Aus der Reise ins arktische Abenteuer ist eine Reise zu Freunden geworden. Und so soll es auch bleiben.

 Grönland aus der Vogelperspektive

Imaqa ─ Vielleicht

Es ist Anfang Mai. Ich sitze in Ilulissat am Flughafen und staune, dass mein Flug nach Qaanaaq tatsächlich planmässig fliegen wird. Das ist in Grönland nicht immer so. Die Grönländer nennen ihre Fluggesellschaft Air Greenland scherzhaft «Imaqa Airways». «Imaqa» bedeutet «vielleicht». Vermutlich ist es das meist gebrauchte Wort der grönländischen Sprache. Ob bei der Jagd auf dem Eis, auf dem Meer, in den Siedlungen oder am Flughafen, alles ist immerzu «imaqa«. Daran habe ich mich in den vergangenen Jahren gewöhnt. Aber heute habe ich Glück. Kein defektes Flugzeug, kein Sturm und auch kein Nebel, der die Reise in die nördlichste grönländische Stadt verhindert.

Erik der Rote und das Grüne Land (981 n.Chr.)

Der Flug ist wie eine Reise durch Grönlands Geschichte. An der Küste dominiert Anfang Mai noch das Eis. Als die grösste Insel der Welt ihren Namen bekam, war dem nicht so. Erik der Rote, seines Zeichens Wikinger und aus seiner Heimat verbannt, erreichte Grönland 981 während einer Wärmeperiode im Süden des Landes. Dort war die Insel grün und der Rote gab ihr den Nahmen Grünland oder Grönland. Die Inuit selber nennen ihr Land Kaalaalit Nunnat, Land der Menschenvölker. Nun ja, besonders treffend ist keine der Bezeichnungen ─ das «grüne Land» hatte trotz allem einen dicken Eispanzer und im «Land der Menschenvölker» lebten 57 000 Menschen, die sich, zumindest theoretisch, sagenhafte 2 Millionen Quadratkilometer teilten. Das entspräche einer Schweiz mit 1000 Einwohnern.

 Minik ─ eine arktische Tragödie in New York (1897 ─ 1911)

Weit oben im Norden erkenne ich die Melville Bay und Kap York. Von hier aus unternahm Robert Peary zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine sagenumwobeneReise zum Nordpol. Noch heute streiten sich Historiker, ob Peary oder Cook zuerst den Pol erreicht hat.In Kap York nimmt die unglaubliche Geschichte des Inuit Jungen Minik ihren Anfang. Seine Geschichte bewegte die Welt. Sie ging durch die Medien, wurde aufgeschrieben und verfilmt. Minik stammte aus Savissivik, einem kleinen Dorf unweit von Kap York. Savissivik bedeutet «Der Ort, von dem das Eisen kommt». Ein mächtiger Meteorit war einst hier niedergegangen. Die Inuit in der Region waren die ersten, die ihre Waffen aus Eisen herstellen konnten. 1897 liess Peary den Meteoriten auf ein Schiff verfrachten und nahm ihn mit nach New York. Er war für das American Museum of Natural History bestimmt. Der Polarforscher brachte aber nicht nur einen monumentalen Gesteinsbrocken aus dem All in die Metropole, sondern auch Menschen ─ auch sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Mit an Bord waren der zehnjährige Minik, sein Vater Qisuk und vier weitere Inuit. Die Thule Eskimos verfügten jedoch nicht über die nötigen Abwehrkräfte gegen die Viren der Zivilisation, und das Museum vergass, sie impfen zu lassen. Alle starben, ausser Minik. Dieser versprach seinem Vater auf dem Sterbebett, ihn nach heimischen Sitten im Garten des Museums zu begraben. Die Museumsleitung stimmte zu und führte eine Scheinbeerdigung durch. Jahre später entdeckte Minik das Skelett seines Vaters, öffentlich ausgestellt in einer Vitrine im Museum of Natural History. Danach wurde das Leben in Amerika unerträglich für ihn, er wollte zurück in seine Heimat. Dort musste er jedoch feststellen, dass ihm auch seine Heimat fremd geworden war. In Savissivik schenkte niemand seinen Berichten aus der grossen Stadt Glauben. Ernüchtert und heimatlos kehrte Minik nach Amerika zurück, wo er im Alter von 31 Jahren an der spanischen Grippe starb.

 Thule und Thule ─ Von der Handelsstation zum Luftwaffenstützpunkt

Von Kap York führt der Flug weiter nach Ummanaq, besser bekannt als Thule Airbase. Ein weiterer Schauplatz von Bedeutung. Seit 4500 Jahren war die Thule Region immer wieder besiedelt. Die Völker kamen und gingen. Die Vorfahren der heutigen Polar Eskimo begannen erst um 1100 n.Chr. die Region zu besiedeln.

 Rasmussens Thule (1910)

Dort, wo heute die Airbase liegt, gründete der dänische Polarforscher Knud Rasmussen 1909 eine Handelsstation. Er nannte sie Thule. Im Gegensatz zu allen anderen Polarforschern, die bis dahin den Norden Grönlands erreicht hatten, interessierten Rasmussen vor allem die Kultur und Sprache der Thule Eskimo ─ und nicht der Nordpol. Als Sohn einer Grönländerin und eines Dänen, war er nicht nur mit der Sprache, sondern eine Zeit lang mitten in der Kultur aufgewachsen, was ihm nun enorme Vorteile verschaffte. Vor allem Rasmussens Werke und die seiner Weggefährten, haben die Kultur der Thule Eskimo in der Welt bekannt gemacht.Dank Rasmussens Handelsstation konnten die Eskimos mit dem Süden Grönlands und sogar mit dem Ausland Handel treiben. Für die Jagdbeute aus der Arktis gab es Gewehre und andere Güter, die das Leben im Hohen Norden erleichterten.  Rasmussens Haus steht heute in Qaanaaq und ist ein Museum. Ursprünglich stand es jedoch, ebenso wie viele Inuit Häuser, in Ummanaq. Umsiedlungen sind im Norden Grönlands ein Kapitel für sich: Die von Ummanaq nach Qaanaq gehört zu den tragischsten Episoden in der Geschichte Grönlands. Und die begann Mitte des 20. Jahrhunderts.

 Amerikas Thule (1951)

1950 schlossen Dänemark und die USA ein Abkommen. Die Amerikaner sollten als Truppenstützpunkt die Thule Region in Grönland erhalten. Während des Kalten Krieges war die Lage dieser Region für die USA strategisch von Nutzen. Im Gegenzug würden die Amerikaner Dänemark im Falle eines erneuten Krieges ─ der zweite Weltkrieg war gerade erst vorüber ─ vor weiteren Diktatoren schützen. Grönland war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 230 Jahren dänische Kolonie. Das Abkommen wurde besiegelt, ohne die Ureinwohner im Norden auch nur zu informieren. 1951 wurde die Thule Airbase in nächster Nachbarschaft zu Ummanaq gebaut. Zwei Jahre später wurden die Bewohner dort erneut vor vollendete Tatsachen gestellt: Sie hatten drei Tage Zeit, um ihr Hab und Gut zusammenzupacken und mit Kind und Kegel ins 150 km nördlich gelegene Qaanaaq zu ziehen. Als Transportmittel standen ihnen lediglich ihre Hundeschlitten zur Verfügung. Es war Mai. Wollten sie mit den Schlitten noch über sicheres Eis gelangen, mussten sie sich sputen. Mein Freund Hans Jensen war damals zwei Jahre alt. Er erzählt nicht ohne Bitterkeit wie es damals war. Man hatte ihnen zugesichert, dass sie in Qaanaaq eingerichtete Häuser vorfinden würden.  Aber als die Familien die beschwerliche Reise nach Tagen und Wochen hinter sich hatten, stand von den versprochenen Häusern kein einziges. Das Versorgungsschiff, das das Baumaterial bringen sollte, konnte das Eis in der Bucht von Qaanaaq erst Monate später passieren. So lebten sie wohl oder übel in Zelten, bis die Häuser Ende November endlich einzugsbereit waren.

 Atomarer Absturz (1968)

Die Umsiedlung blieb nicht das einzige Unglück, das der Bau der Thule Airbase nach sich zog. Ein weiteres, dessen Folgen für Mensch, Tier und Natur noch heute nicht eindeutig geklärt sind, ereignete sich 1968. Eine B-52 mit 4 Wasserstoffbomben an Bord stürzte im Landeanflug auf die Luftwaffenbasis ab. Sie schmolz ein gewaltiges schwarzes Loch ins Eis und versank im Polarmeer. Die konventionellen Sprengladungen der Atomwaffen wurden ausgelöst, die nähere Umgebung der Absturzstelle wurde radioaktiv verseucht. Erst Jahre später wurde bekannt, dass nur drei der vier Bomben geborgen werden konnten. Von der vierten fehlt noch immer jede Spur. Der Fall Thule beschäftigt die dänischen, amerikanischen? Gerichte noch heute. Entschädigungsleistungen, die angeboten wurden, sind im günstigsten Fall symbolisch. Die Airbase wird noch heute von den Amerikanern betrieben. Ihr Nutzen ist fragwürdig. Für die Inuit bildet sie eine Verbindung zur Aussenwelt, die es früher nicht gab, sowie die Möglichkeit medizinischer Versorgung vor Ort. Die Lebenserwartung ist gestiegen, seit es die Basis gibt. Auf der Kehrseite der Medaille aber stehen die Zwangsumsiedlung, kontaminierte Jagdgründe und eine noch immer nicht lokalisierte Bombe, die, keiner weiss wann, für weitere Kontamination sorgen kann ─ oder vielleicht schon gesorgt hat.   

 Surreal, Skurril

Während meiner ersten Grönlandreise im Jahr 1997, als man noch über die Thule Airbase, oder Pittufik, wie die Basis von den Inuit genannt wird, reisen musste, sass ich wegen heftiger Stürme eine Woche lang dort fest. Es war eine surreale Woche. In der streng geheimen Basis durfte man sich nicht frei bewegen. Zu den Mahlzeiten wurden wir abgeholt, um in der Dining Hall zwischen mexikanischer, italienischer und amerikanischer Küche zu wählen. Die Zeit war diejenige Washingtons und bezahlt wurde in Dollar. Inzwischen kann man Qaanaaq von Kangerlussuak, über Ilulissat und Upernavik direkt anfliegen. Im Mai ist der Flieger gut gebucht. Rund fünfzig Personen finden in der Dash7 Platz. Im Winter ist das anders. Ich erinnere mich an einen Flug im Februar 2004. Mit mir an Bord, genau vor meinen Füssen, ein Sarg. Darin eine Frau, die sich in Dänemark das Leben genommen hatte. Das Aufgebot für ihre Beerdigung hatte schon etliche Male gestanden. Aber jedes Mal wurde der Sarg an einem Flughafen vergessen und die Trauergemeinde in Qaanaaq musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Was für eine Belastungsprobe! Wenigstens war, als der Leichnam endlich in Qaanaq ankam, noch ein Grab frei. Im Winter können nämlich keine neuen Gräber ausgehoben werden, weil der Boden tiefgefroren ist.   

 Ein Dorf, eine Stadt und sehr viel Eis

 

Angekommen

Dieses Mal ist meine Ankunft nicht von einer traurigen Geschichte überschattet. Mein Freund Hans erwartet mich am Flughafen. Seit einigen Jahren wohne ich in meiner Zeit in Qaanaaq in seiner Pension, wenn ich nicht gerade mit den Jägern auf dem Eis bin. Früher wohnte ich bei Familien, und in der kleinen Siedlung Savissivik ist das heute noch so. Aber der Preis dafür ist zuweilen hoch,  besonders seit ich selber Vater bin. Nie werde ich die Nächte bei einer Familie vergessen, in der getrunken wurde, bis die letzten Hemmungen fielen und die aufgestauten Aggressionen freie Bahn hatten. Bis zu fünf kleine Kinder suchten bei mir Schutz vor den eigenen Vätern und Müttern.Mein Zimmer in der Pension ist, wie üblich, die Nummer 4. Ich habe die Ehre, im selben Zimmer zu nächtigen, wie Kornprinz Frederik von Dänemark, bevor er vor einigen Jahren zur Siriuspatrouille aufbrach. Die Nordkappe Grönlands wird regelmässig vom dänischen Militär abgefahren, um das Hoheitsgebiet zu sichern. Die Patrouille per Hundeschlitten dauert mehrere Monate. Nachdem ich also meine Prinzensuite bezogen und mit Hans und seiner Frau Birthe Kaffee getrunken habe, mache ich mich auf den Weg ins Dorf, um allen guten Tag zu sagen. Ich treffe Hans, den Polizisten, der früher Matrose war und seit fünfzehn Jahren in Qaanaaq für Recht und Ordnung sorgt. Bei den Öltanks treffe ich auf Kakuk. Er wollte ursprünglich Jäger werden, entschied sich dann aber für die Energieversorgung in Qaanaaq. Mittlerweile hat er sich zum Leiter der Öltanks hochgearbeitet. Wir tauschen Neuigkeiten aus und trinken zusammen Kaffee. Endstation meines ersten Rundgangs ist der Hafen, ein zugefrorener Strand. Hier treffe ich auf Gedion, der mich schon erwartet hat und sagt, ich solle mich bereit machen. Morgen brechen wir auf ─ aufs Eis. Gedion Kristiansen ist einer der letzten Jäger in der Stadt. Er ist 46 Jahre jung, hat einen Sohn und bei jeder meiner Ankünfte ich Qaanaaq eine neue Freundin. Seit 2003 fahre ich in Qaanaaq immer mit ihm aufs Eis. Gedion stammt aus einer grossen Jägerfamilie. All seine Vorfahren waren Jäger, er und seine älteren Brüder, Mamarut und Mikili, machen da keine Ausnahme. Die Erwerbsmöglichkeiten für Gedion, seine Brüder und sämtliche Jäger des Thule Distrikts haben sich jedoch grundlegend geändert. Heute stehen die Jäger vor ihrer grössten Belastungsprobe seit Menschengedenken.

 

 

Von Umweltschutz bis Unabhängigkeit

 

Grönland und Greenpeace

Begonnen hat es in den 80er Jahren. Damals starteten Greenpeace und Brigitte Bardot eine Kampagne gegen die Tötung von Robbenbabys. Die Kampagne richtete sich gegen die kommerzielle, massenweise und durchaus fragwürde Abschlachtung von Jungrobben, insbesondere für die Pelzindustrie. Sie erwischte aber auch diejenigen, die keine Jungtiere jagten, aber seit Jahrtausenden von der Jagd auf Robben und andere Meeressäugetiere gelebt haben, weil es in arktischen Regionen schlicht keine Alternative gibt. Greenpeace versäumte es aber, die arktischen Kulturen explizit von dieser Kampagne auszunehmen, was gravierende Folgen hatte.Für Greenpeace wurde die Kampagne ein Erfolg, für die Inuit wurde sie zum Debakel. Der Markt für Robbenfelle brach ein, und die Inuit-Jäger sahen sich einer wichtigen Einkommensquelle beraubt. Denn wenn Mensch und Tier satt waren und die eigenen Anoraks und Kamiks (Fellstiefel) genäht, blieben immer noch genügend Robbenfelle für den Export übrig. Der aber war nun verboten. Den Einkommensausfall in den Jägerfamilien mussten fortan Frauen und Mütter ausgleichen, die einer bezahlten Arbeit nachgingen. Obwohl ein Jäger nun zu wenig verdiente, um seine Leute zu ernähren, blieb er der Stolz der Familie und für die Ernährung zuständig. Dass das Ego der Jäger dennoch unter dieser fremdverschuldeten Unzulänglichkeit litt, steht auf einem anderen Blatt.

 

Dünnes Eis 1

Und nun kommt auch noch der Klimawandel dazu. Sowohl der Wandel als solcher, als auch das, was wir daraus machen. Der Klimawandel ist gravierend, und im Norden Grönlands unübersehbar. Das Eis, das in den 80er Jahren in der Thule Region noch bis zu zwei Meter dick wurde, bringt es heute auf gerade mal einen Meter. Bildete das Eis früher zu Beginn der Polarnacht Ende Oktober bereits eine geschlossene, solide Fläche, so können die Jäger heute erst ab Ende Januar oder Anfang Februar aufs Eis. Die Zeit, in der weder auf dem Meer noch auf dem Eis gejagt werden kann, wird immer länger. Die Jäger beobachten, dass Robben ihre Jungen nicht mehr in den sicheren Eisspalten der Eisfelder zur Welt bringen, da diese inzwischen zu dünn sind. Die Robbenbabys rutschen durch die Spalten hindurch ins Meer und ertrinken. Stattdessen bringen die Weibchen ihre Jungen nun auf dem offenen Eis zur Welt. Hier aber sind sie der Kälte und den jagenden Tieren schutzlos ausgeliefert und überleben oft nicht einmal die erste Nacht. Ich habe unzählige Gespräche mit den Jägern über diese Veränderungen geführt. Sie sind sich einig, dass sich die Tiere mit dem Klima arrangieren werden. Sie ziehen sich in die Fjorde zurück oder wandern weiter nach Norden. Und die Jäger werden ihnen folgen.

 

Der Preis der Unabhängigkeit

Weitaus gravierender sind die Auswirkungen unserer Gier nach Bodenschätzen. Die Aussicht auf Ölvorkommen in der Arktis hat eine regelrechte Goldgräber-Stimmung ausgelöst. Vor wenigen Jahren wurde ich von einem Konsortium von Amerikanern und Schweden mit Büro an der Zürcher Bahnhofstrasse angeheuert. Ich sollte ihre Förderaktivitäten fotografisch begleiten ─ es ging um alle erdenklichen Rohstoffe in der Arktis. Geld so schien es, spielte keine Rolle. Obschon mir die ganze Geschichte dubios erschien, sah ich darin eine Chance, den scheinbar unvermeidlichen Wandel in Grönland zu dokumentieren. Ich liess mich auf die Leute ein.  Als 2008, noch bevor ich die Arbeit aufnehmen konnte, die Immobilienkrise ausbrach, stand das Büro plötzlich leer und das Konsortium war spurlos verschwunden. Viele Firmen sind in dieser Zeit so schnell aus der Arktis verschwunden, wie sie gekommen sind. Weitergesucht und -gebohrt wird trotzdem. Dass das fragile Ökosystem der Polarregion dabei ins Wanken gerät, scheint sekundär.Selbst die Grönländer scheinen derzeit anderes im Sinn zu haben, als den Schutz von Umwelt und Klima. Politisch ist Grönland noch immer Dänemark unterstellt. Zwar hat das Land auch eine eigene Regierung, die Greenland Home Rule. Diese verfügt aber nur über eingeschränkte politische Rechte und Kompetenzen. Das soll sich ändern. 2008 beschloss das Land im Rahmen einer Volksabstimmung und mit einer Mehrheit von 75%, die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark anzustreben. Doch diese hat ihren Preis. Finanziert werden soll sie mit den Bodenschätzen des Landes und mit Hilfe ausländischer Investoren, die die Erschliessung und Förderung der Ressourcen vorantreiben.  Um den Übergang zur Unabhängigkeit zu erleichtern und die Kosten für kleine, entlegene Siedlungen zu minimeren, wird hie und da auch nachgeholfen. Obwohl Fisch das einzig erwähnenswerte Exportgut Grönlands ist, werden überall im Land die kleineren Fischfabriken geschlossen. Wer in der Folge ohne Arbeit ist, zieht, so die Hoffnung, in die grösseren Orte und erspart der Regierung die kostentreibende Versorgung der vielen kleinen Ortschaften. Ein ähnlicher Plan, der in den 1960er Jahren unter der Bezeichnung G-60 von Dänemark präsentiert worden war, wurde damals nach massiven Protesten von grönländischer Seite wieder fallen gelassen.

 

Home Rule Quoten vs. Thule Law

Um auf dem internationalen politischen Parkett etwas bieten zu können, hat Greenland Home Rule als Reaktion auf den Druck von NGOs und westlichen Staaten auf fast alle einheimischen Tiere Fangquoten festgelegt. Es handelt sich um Quoten für Eisbären, Walrosse und Kleinwale. Die Fangquoten für Grosswale werden hingegen schon lange von der International Whaling Commission (IWC) festgelegt. Die IWC gesteht den grönländischen Inuit die Jagd auf Wale zur Selbstversorgung zu. Grosswale wie Mink- und Finnwale werden aber nur südlich der Disko Bucht gejagt.  Die neuen Quoten treffen somit vor allem die Thule Inuit. Seit einigen Jahren besteht ausserdem ein vollständiges Ausfuhrverbot auf sämtliche Produkte von Robben, Narwalen, Eisbären und Walrossen. Und dies obwohl die Jäger nur vergleichsweise wenige Tiere jagen und grundsätzlich nicht des Profits wegen. Gejagt wird, was auch gegessen werden kann. Das selbst auferlegte Thule Law, definiert genau, welche Jagdmethoden zur Anwendung kommen und wie die Verwertung erfolgt. Es definiert auch, dass Narwale zu jeder Jahreszeit nur aus dem Kajak gejagt werden dürfen und nicht aus Schnellbooten, was sehr viel einfacher wäre. Auch wie ein erlegter Eisbär unter den beteiligten Jägern aufgeteilt wird, ist in diesem Gesetz festgehalten. Das Thule Law wurde von Thule Inuit erlassen, um die eigene Kultur zu schützen und um Streitereien und Habgier zu unterbinden. Infolge der Quoten und Exportbestimmungen ist die Jagd als traditionelle Einkommensquelle nun aber nicht mehr rentabel. Geblieben ist lediglich der magere lokale und nationale Markt. Gedion würde seinem Sohn Rasmus deshalb nicht mehr empfehlen, den Beruf des Jägers zu wählen. Er selber kann sich aber nichts anderes vorstellen.

 

 Auf dem Eis

 

Geduld 1 ─ Suchen

Jagd auf Nanoq

Das Wetter ist traumhaft. Ich stelle mich auf eine Reise mit milden Temperaturen ein, und für einmal soll ich Recht behalten. Bisher war ich nur in den Monaten Februar bis April auf dem Eis. Vor allem der Februar hat es in sich. In der Melville Bucht bei Savissivk habe ich Temperaturen von bis zu -50 Grad Celsius erlebt. Für mein erstes Buch über die Inuit hatte ich mir in den Kopf gesetzt, die Jäger bei der Jagd auf Nanoq, den Eisbären, zu begleiten. Dabei habe ich den Thule Spirit in seiner Reinkultur kennengelernt. Wer sich mit den Jägern aus Savissivik auf die Jagd begibt, wird vor allem eines lernen: Geduld. Viele lange Winter bin ich Jahr für Jahr nach Savissivk gereist, um wochenlang mit ihnen auf dem Eis zu leben. Ständig verfolgten wir Eisbären. Wurde eine Spur gesichtet ─ und das war oft der Fall ─ wurde sie von Simon Eliassen, dem Jäger, den ich dort begleiten durfte, auf ihr Alter und die ungefähre Grösse des Bären überprüft. War die Spur nicht zu alt, wurde die Verfolgung aufgenommen. Die Verfolgungsjagd ist spannend. Man sieht wo der Bär geschlafen, wo er gejagt hat und vieles mehr.Einmal führte uns eine Spur zu einem Eisberg von der Grösse eines Fussballstadions. Darin hatte es viele Höhlen. Simon sagte, wir müssen nun nur noch um den Berg herumfahren. Führt keine Spur weiter, versteckt er sich in einer dieser Höhlen. Wir sassen beide auf dem Schlitten, jagdbereit. Simon als Jäger, ich als Fotograf. Das Adrenalin schoss mir durch den Körper. Ich schwitzte ─ selbst in der Februarkälte der Mellville Bay.  Aber ─ auf der anderen Seite des Eisbergs führte die Spur weiter. Und sie war frisch. So frisch, dass Simon seine drei stärksten Hunde vom Zuggeschirr befreite. In einem solchen Fall nehmen die auf die Eisbärenjagd trainierten Hunde die Spur auf. Sie sollen den Bären stellen und aufhalten, damit der Jäger mit dem vergleichsweise trägen Hundegespann zu ihnen aufschliessen kann. Etliche Stunden später standen wir an der Eiskante, weit weg vom Festland. Der Bär war übers offene Meer entkommen.Die Rückreise führte durch dichtes, unwegsames Packeis, während der letzten Stunden tobte ein heftiger Sturm. Todmüde sank ich in der Schutzhütte auf mein Rentierfell und schlief sofort ein. Manchmal wurden wir mitten in der Nacht von den Hunden geweckt. Gilt der Alarm einem Bär, muss man binnen Sekunden parat sein und draussen auf dem Eis stehen. In den Hütten herrscht deshalb grosse Ordnung, vor allem was die Kleidung anbelangt. Alles hat seinen Platz, alles ist vorbereitet. Wird der Bär aber von den Hunden aufgeschreckt, sucht er das Weite und entkommt. So ging das Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Dann aber, etliche Frostbeulen später, sollte es doch noch klappen. Wir waren erst wenige Tage auf dem Eis und zogen, den Wind im Rücken, in  Richtung Norden. Der Eisbär der uns somit riechen konnte, verkroch sich hinter einem Eisberg. Er ging erst weiter, als wir schon einige Kilometer an ihm vorbeigezogen waren. Nun aber hatte der Bär den Wind im Rücken und die Hunde rochen ihn. Und wenn für die Hunde die Jagd eröffnet ist, dann wehe dem, der sich nicht auf dem Schlitten halten kann. Selbst Simon Eliassens Bruder Magnus wurde vom Schlitten geworfen, so schnell rannten die Hunde über das unwegsame Eis. Ole, ein Jäger aus unserem Team, erreichte den Bären zuerst und erlegte ihn. Die Jäger sagten dem Bären ohne viel Aufsehen Dank ─ so, wie sie es bei jedem Tier tun ─ und begannen sofort mit der Arbeit. Das Tier muss zerlegt werden, bevor es gefroren ist, denn ein riesiger Eisbär lässt sich nur zerteilt auf die Schlitten laden.Nach dem Thule Law erhält der Jäger, der den Bären erlegt hat, den besten Teil, den Oberkörper mit dem Kopf und zwei Pfoten. Der Jäger der ihn als erster gesichtet hat, erhält den Rumpf, der sich gut für Hosen und Kamiken eignet. Für mich als Fotograf ist die Eisbärenjagd infolge der Quoten zu einer Lotterie geworden. Oft sind die erlaubten neunzehn Tiere für den gesamten Thule Distrikt schon im Februar erlegt. Zumal es in der Gegend von Savissivk, wo es die meisten Bären gibt, in letzter Zeit oft vorkommt, dass sich ein vom Hunger getriebenes Tier ins vierzig Seelendörfchen verirrt. Ein Jäger, so hat man mir erzählt, musste einen Bären von seinem Fenster aus ─ in Unterhosen ─ schiessen. Haben sie sich einmal in ein Dorf vorgewagt, kommen sie auch ein zweites Mal. Die Tiere müssen dann erlegt werden, nicht nur zum Schutz der Kinder.

 

 

Dünnes Eis 2

Morgen Mittag wollen wir gemeinsam zur Eiskante aufbrechen. Die Narwale kommen nun dorthin und das Wetter ist günstig, sagt Gedion. Die Reise dauert in diesem Jahr nur noch vier Stunden mit dem Hundeschlitten. Als ich im April 1997 zum ersten Mal hierher kam, dauerte sie noch doppelt so lang. Das Eis war damals sehr viel dicker, die Eisfläche sehr viel grösser und es dauerte acht Stunden, bis wir mit den Schlitten die Eiskante weit draussen auf dem Meer erreicht hatten.  Dann ist es soweit. Am Strand trifft Gedion seinen Freund Niels Mingue. Er wird Gedion begleiten. Ist eine Reise zur Eiskante geplant und die Kajaks kommen zum Einsatz, gehen die Jäger mindestens zu zweit. Gerade erst wurde nahe Savissivik ein Jäger im Kajak von einem Walross angegriffen. Er kenterte und starb. Selbst die Jäger, die ihn begleiteten konnten ihm nicht mehr helfen. Bei Reisen auf dem Eis ist immer Vorsicht geboten. Auch wenn sich unerwartet Eisplatten lösen und aufs Meer hinaus treiben, ist es gut, jemanden dabei zu haben. Als ich Gedion im März 2003 an der Eiskante bei der Robbenjagd fotografierte, brach wenige hundert Meter hinter uns die Kante ab. Wir schafften den Sprung aufs sichere Eis gerade noch rechtzeitig. Es hätte nicht viel gefehlt und wir wären auf unserer Eisscholle auf die offene See hinausgetrieben. Damals war ich nur mit Gedion draussen, weil sein Bruder Mikili tatsächlich irgendwo auf dem Meer umhertrieb. Er hatte in seinem Zelt auf dem Eis übernachtet und den Abbruch des Eisfeldes nicht bemerkt. Am Morgen trieb er auf offener See. Es dauerte lange, bis das Eisfeld wieder anlandete. Erst einen Monat später kehrte er nach einer langen und beschwerlichen Reise über das Inlandeis wieder nach Qaanaaq zurück. Für die Jäger wird das Eis immer unberechenbarer. Es wird immer schwieriger, es richtig zu lesen, und es wird immer dünner. All das bringt die Jäger zunehmend in Gefahr.

 «Ej!»

Wir reisen etwa 40 km in Richtung Steensby Land. Die Reise auf einem Hundeschlitten ist eine herrliche Sache. Das Tempo ist gemächliches Traben und während Stunden ändert sich das Panorama kaum. Immerzu schaut man auf eine nicht enden wollende Eisfläche. Die Gedankengänge bekommen eine ganz eigene Dynamik. Zuhause in der Schweiz werden die Gedanken ständig unterbrochen oder umgeleitet. Szenerien und Situationen ändern sich laufend. Sei es durch einen ins Sichtfeld kommenden Baum, ein vorbeifahrendes Auto oder einen Telefonanruf. Hier in der Arktis ist das anders. Nichts ändert sich und meine Gedanken frieren oft stundenlang am selben Thema fest. Einige wegweisende Entscheidungen für mein Leben, habe ich beim Sinnieren auf dem Eis getroffen.Auf dem Weg zur Eiskante passieren wir eine kleine Schutzhütte an der Küste. Hier habe ich schon viele Nächte verbracht, auch meine erste Nacht auf dem Eis. Und die folgte auf meinen ersten Tag dort draussen, der mir auch gleich das erste denkwürdige Abenteuer beschert hatte.Völlig überwältigt von der Landschaft, den Jägern und der Kälte, sog alles auf wie ein Schwamm. Nur ein klitzekleines Detail war mir entgangen, nämlich, wie man laufende Hunde vor einem Hundeschlitten zum Halten bringt. Und das hatte Folgen. Wenn ein Jäger das Atemloch einer Robbe sichtet ─ es ist gerade so gross wie ein Tennisball ─ hält er an und schaut, ob es noch frisch ist. Mikili, mit dem ich auf dem Eis war, fand ein solches Atemloch und beschloss, auf die Robbe zu warten. Ein Jäger kann stundenlang bewegungslos in eisiger Kälte verharren. Und damit die Hunde seinen Jagderfolg nicht ruinieren, schickt er sie einige hundert Meter weiter. Sicherheitshalber schickte Mikili nicht nur seine Hunde, sondern auch mich weiter. Da ich nun aber auf dem Schlitten sass und in Eisbärenhosen und Rentieranorak einem Jäger wohl zum Verwechseln ähnlich sah ─ oder es ihnen schlicht egal war, wer da auf dem Schlitten sass ─  liefen die Hunde weiter. Und immer weiter. Wenn man nicht daran gewöhnt ist, ist es nicht ganz einfach, sich auf einem dahin sausenden Hundeschlitten zu halten, noch nicht einmal, wenn man strub geradeaus schaut. Sich während der Fahrt umzudrehen, gleicht einem akrobatischen Akt, zumal für mich und an meinem ersten Tag. Als es mir schliesslich gelang, war Mikili bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden. Wenigstens war ich nicht abgeworfen worden. Den Hunden rief ich zu «aretet», aber sie machten keinerlei Anstalten anzuhalten. Gefühlte zehn Stunden später hielten sie einfach an und legten sich nieder. Irgendwo mitten in der Arktis. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn jetzt ein Eisbär kam.  Der Eisbär kam nicht. Stattdessen kam Argni, ein befreundeter Jäger, zu Mikilis Atemloch, wo der inzwischen seine Robbe erlegt hatte, und gemeinsam folgten sie der Spur des Schlittens. Als sie uns erreichten, war ich, um es vorsichtig zu formulieren, erleichtert. Während ich noch immer um Fassung rang und mich bemühte, den Schrecken zu verdauen, hatten Mikili und Argni den Spass ihres Lebens ─ sie renkten sich vor lauter Lachen kaum mehr ein. In den achtzehn Jahren, in denen ich die Arktis besucht habe, gab es unzählige Zwischenfälle ähnlicher Art. Inzwischen kann auch ich darüber lachen. Überhaupt wird auf dem Eis viel gelacht. Keine Ahnung warum. Vielleicht ist es eine Art Überlebensstrategie, die das harte Leben da draussen erträglicher macht. Ich lernte, dass «aretet» sitzen bedeutet. Bevor der Hund sich aber setzt, muss er den Befehl «Halt» hören. Ein einfaches «Ej» hätte genügt, um die Meute zum Stehen zu bringen.

 

Schutzhütten und Schlittenzelte

Gedion und Niels erreichen die Eiskante. Der Westwind hat neues Eis an die Kante getrieben. Bei solchen Verhältnissen kann man mit dem Kajak nicht raus. Wir trinken Kaffee und warten. Gedion und Niels beschliessen, die Nacht hier zu verbringen. Die beiden Schlitten werden zusammengeführt, darüber wird ein Zelt errichtet, ein Petrolofen angezündet und Wasser aus einem grossen Eisblock geschmolzen. Dass alles dauert nur wenige Minuten. Es beeindruckt mich immer noch, wie jedes Ding an seinem Platz ist und jeder Handgriff perfekt sitzt. Im Zelt werden Rentier- und Moschusochsenfelle ausgelegt. So wird es recht gemütlich.  Auf dem Eis gibt es noch eine andere Übernachtungsmöglichkeit. Entlang der Küste haben die Inuit kleine Schutzhütten gebaut, die etwas geräumiger sind als das Lager auf den Schlitten. Meist werden sie aber so aufgeheizt, das man kaum noch atmen kann. Folgt man aber den Tieren, muss man ihre Wege gehen. Dann übernachtet man in Zelten. Die Tage der Iglus sind längst vorüber. Sie werden nur noch in Extremsituationen gebaut. Etwa wenn ein Sturm aufkommt oder weit draussen auf dem Eis. Und natürlich für Touristen, die die Eskimos in einem Iglu sehen wollen.

 

Gefühl von Freiheit

Der Wind hat von West auf Ost gedreht und das Treibeis wird langsam wieder aufs Meer hinaus getrieben. Wir legen uns ins Zelt und meine Gefährten schlafen sofort ein. Bei mir funktioniert das diesmal nicht. Es ist zwei Uhr morgens und die Sonne denkt nicht daran unterzugehen. Daran muss ich mich erst gewöhnen. In Qaanaaq erscheint die Sonne am 17. Februar zum ersten Mal wieder über dem Horizont, und schon am 21. April geht sie nicht mehr unter. Dagegen sieht man sie vom 7. November bis zum 17. Februar überhaupt nicht mehr. Die Zeit, in der es Tag und Nacht gibt, ist sehr kurz. Das ist auch im Alltag spürbar, vor allem auf dem Eis. Man schläft, wenn man müde ist und isst, wenn man Hunger hat. Geregelte Essens- und Schlafenszeiten gibt es nicht. Das Leben auf dem Eis findet in völligem Einklang mit der Natur statt. Und im Einklang mit sich selber. Es ist ein Gefühl von absoluter Freiheit.

 Zuhören

Am folgenden Tag beschliessen Gedion und Niels, entlang der Eiskante Richtung Herbert Island zu ziehen, wo eine Gruppe von sechs Jägern ebenfalls auf Narwale wartet. Die zwanzig Kilometer lange Reise dauert nur wenige Stunden. Im Camp treffe ich viele alte Bekannte. Auch Mamarut, Gedions ältester Bruder ist da. Er ist so etwas wie der Anführer. Alle lauschen aufmerksam seinen Ausführungen. Zu Hause läuft ein Nachtessen mit Freunden anders ab. Nicht vorstellbar, dass einer eine Geschichte erzählt, die eine Stunde dauert. Dann geht er raus, um eine Zigarette zu rauchen und selbst dann käme keiner auf die Idee, seine Erzählungen zu unterbrechen. Alle warten bis er zu Ende erzählt hat. Geschichtenerzählen hat in der Arktis Tradition. Es ist so unterhaltsam, wie wenn man bei uns ins Kino oder ins Theater geht.

 What the hell

Stoff für unterhaltsame Geschichten habe auch ich schon geliefert. Meine fehlgeschlagenen Eisbärenreisen sind dafür wie geschaffen. Sechs lange Wochen war ich mit Simon Eliassen zwischen Kap York und Savissivk auf dem Eis gewesen, ohne einen Eisbären auch nur zu sichten, geschweige denn zu jagen. Schliesslich mussten wir aufgeben. Meine grossen Zehen waren inzwischen schwarz und ich brauchte einen Arzt. Ausserdem stand mein Flug nach Hause an. Simon brachte mich um 7 Uhr morgens zum Helikopterlandeplatz. Wir verabschiedeten uns und vereinbarten, die Eisbärenjagd im nächsten Jahr wieder gemeinsam anzugehen. Der Flug von Savissivk ging via Thule Airbase nach Qaanaaq, von wo aus mich eine Dash7 nach Ilulissat und weiter nach Kangerlussuak bringen sollte.Aber am Flughafen gab es keine Dash7. Dafür wartete Hans Jensen auf mich und teilte mir mit, dass die Flüge gecancelt waren. Entweder tobte irgendwo ein Sturm oder irgendetwas war defekt. Ich würde erst in sieben Tagen weiterreisen können. Gerade als wir die Pension betraten und vier Stunden, nachdem ich Savissivik verlassen hatte, rief Simon Eliassen an. Gleich nach meinem Abflug sei er aufs Eis rausgefahren und keine halbe Stunde von Savissivik entfernt ─ nun ja, er sei fast schon mit dem Eisbären zusammen gestossen, so nah sei der gewesen. Ich muss gestehen, ich fand es nur halb so lustig wie meine Freunde, die sich ─ einmal mehr ─ kaputtlachten. Und als mir die Ärztin in Qaanaaq mitteilte, um meine Zehen stünde es gar nicht gut, da lachte Hans schon wieder. Als ich ihn fragte, was daran denn nun so lustig sei, lehrte er mich ein grossartiges Lebensmotto. «What the hell» lachte er, «it’s too late anyway». Er hatte vollkommen recht ─ passiert war passiert. Weshalb sich noch aufregen, wenn man ohnehin nichts mehr ändern konnte. Meine Zehen haben sich sogar wieder einigermasen erholt, und Stoff für unterhaltsame Geschichten liefern sie nun allemal.

 

Geduld 2 ─ Warten

Auf dieser Reise an die Eiskante friere ich nicht. Die Sonne scheint und die Temperaturen bewegen sich im milden Minusbereich. Diese Mal wartet eine andere Herausforderung auf mich. Eine, die ich so in Grönland noch nicht erlebt habe, eine neue Lektion in Sachen Geduld. Begonnen hat alles recht vielversprechend. Schon während der zweiten Nacht, gegen 2 Uhr morgens kommt Hektik auf. Ein Narwal nähert sich der Eiskante. Wieder geht alles ganz schnell und schon wenige Minuten später stehen wir alle an der Eiskante. Alle sind ruhig und schauen aufs Meer. Und tatsächlich, einer kommt näher. Die Jäger, die sich entlang der Eiskante verteilt haben, steigen vorsichtig in ihre Kajaks und gleiten leise ins Wasser. Oft kommen die Narwale in ganzen Herden. Hier aber ist es nur einer. Ob der Wal die Gefahr erkannt hat oder ob es Zufall war, weiss ich nicht, aber er ist entkommen. Zurück auf dem Eis steigen die Jäger aus den Booten und trotten gemächlich zurück zum Camp, um auf die nächste Gelegenheit zu warten. Das ist die neue Herausforderung. Warten, sich in Geduld üben, das ist das, was einen Jäger auszeichnet. Bei allen anderen Jagden, die ich in der Thule Region bisher erlebt habe, bedeutete Warten aber auch herumreisen und suchen. Immer blieb man in Bewegung.Aber auf dieser Jagd kommt sogar die Bewegung zum totalen Stillstand. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Man nimmt einen Stuhl, setzt sich drauf und schaut. Und es passiert… nichts. Stundenlang. Tagelang. Ganze fünf Tage sassen wir so an der Eiskante und warteten. Nicht ein einziger Wal tauchte auf. Was mich an dieser Erfahrung am meisten beeindruckt, war die Gelassenheit ─ von allen, selbst von mir. Es ist als schalte man um in einen anderen Modus. Die Zeit verliert an Bedeutung. Am 4. Tag setzte ich mich um 9 Uhr auf die Kufe des Hundeschlittens und schaute hinaus aufs Meer. Ab und zu trank ich einen Kaffee bei den Nachbarn und ass ein Stück Narwal- oder Robbenfleisch. Mehr passierte nicht. Als ich wieder auf die Uhr schaute, war ich sicher, seit höchstens zwei Stunden auf den Beinen zu sein. Weit gefehlt. Es war 15 Uhr und die Zeit schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Hinzu kam, dass die Tage kein Ende nahmen. Immer war es taghell und meistens schien die Sonne. Schlafen konnte ich höchstens zwei Stunden am Stück. Die Kamera war immer bei mir, die Kleider blieben angezogen ─ es hätte ja sein können, dass plötzlich ein Wal auftaucht. Das hätte jederzeit passieren können ─ und passierte doch nicht. Als am siebten Tag, starker Wind aufkam, der das Eis erneut zur Kante triebt, beschlossen die Jäger, nach Qaanaaq zurückzureisen. Und ich? Staune immer wieder aufs Neue. Über dieses Leben der Jäger. Während dieser Woche auf dem Eis waren acht Jäger dabei. Erlegt haben sie zwei Robben, das Fleisch wurde von Hunden und Menschen schon vor Ort verzehrt. Sie kehrten ohne Beute und, soweit ich das beurteilen kann, dennoch zufrieden nach Qaanaaq zurück.

 

Back in town

 

Hundeschlittenrennen

Kurz vor Qaanaaq brach plötzlich grosse Hektik aus. Alle riefen sie durcheinander, nahmen ihre Feldstecher und suchten die Küste ab. Ihrer Euphorie nach zu urteilen hätte es eine ganze Herde Eisbären sein müssen, die sie gesichtet hatten. Da Eisbären aber nicht in Herden auftreten, musste der Grund ein anderer sein. Und schliesslich erkannte auch ich sie. Eine ganze Herde Hundeschlitten mit Kindern drauf. Die Schule veranstaltete ein Rennen. Hundeschlittenrennen gab es in Qaanaaq immer. Aber die Kinder und Jugendlichen auf den Schlitten machen mir bewusst, dass ich in all den Jahren auf dem Eis dort draussen kaum Nachwuchs zu Gesicht bekommen habe.

 Dorfleben

Auch wenn das Leben in einem Dorf wie Savissivik oder in einer Stadt wie Qaanaaq in mancher Hinsicht meinem Leben zu Hause vergleichbar ist, unterscheidet es sich in wesentlichen Aspekten doch grundlegend von allem was ich kenne. In Savissivik wohne ich am Ende des Dorfes. Nach dem Frühstück erledige ich in der Regel meine Einkäufe für den Tag. Der Laden liegt am anderen Dorfende, ich muss also erst einmal durch den ganzen Ort laufen. Nun gut, das Dorf ist in drei Minuten durchquert, der Dorfladen ist nur wenige Quadratmeter gross, verkauft ausschliesslich Konserven und liegt gleich neben dem Flugplatz. Der Flugplatz ist in Wirklichkeit ein Schotterplatz, auf dem nur Helikopter landen können. Savissivik ist ein ganz normales grönländisches Dorf. Die nächste «Ortschaft» liegt 200 km nördlich, es ist die für Inuit nicht zugängliche Thule Airbase. Weder in Savissivik, noch in den meisten anderen Haushalten von Qaanaaq gibt es ein Haus mit fliessendem Wasser. Das Trinkwasser stammt von Eisblöcken, die in den Häusern geschmolzen werden. In der Schweiz wird diskutiert, wie wichtig es für die Entwicklung unserer Kinder ist, dass sie in ihren eigenen Zimmern schlafen und die Betten nicht mit ihren Eltern teilen. Solche Diskussionen sind in Thule überhaupt kein Thema, denn leisten könnte sich das ohnehin niemand. Die Häuser werden mit Öl geheizt, und Öl ist ein teures Importgut. Deshalb sind die Häuser klein. Meist bestehen sie aus einem Schlafzimmer für die Familie und einem etwas grösseren Wohnraum, in dem auch gekocht wird. Doch, es gibt sie, die Unterschiede zu meinem Alltag in der Schweiz. Man gewöhnt sich an die Umstände, die das Leben in der Arktis mit sich bringt. Allerdings braucht es etwas Zeit.Meine ersten Wochen in Qaanaaq waren holprig. Ich war in einer Familie untergebracht und wir konnten uns nur mit Händen und Füssen und mit Zeichnungen verständigen. Sympathiebekundungen funktionierten auf diese Weise bestens. Bei Essens- undanderen Gepflogenheiten war es da schon schwieriger. Eines Tages kam ich nach Hause und musste dringend aufs WC. Weil der Boden die meiste Zeit gefroren ist, gibt es in der Arktis keine Abwassersysteme. Das Klo besteht somit lediglich aus einem Kübel. Manche dieser Kübel werden nur selten geleert. Auch der, um den es hier geht. An diesem Tag war er jedenfalls, nun ja, voll. Da gab’s nur eins ─ Augen zu und durch. Aber es kam noch schlimmer. Während ich so auf dem Kübel sass, bemerkte ich Blut zu meinen Füssen. Ich hob den Kopf. Vor mir hing ein riesiger Brocken Fleisch, der gerade auftaute. Als der Fleischbrocken über dem Kübel später am Tag weg war und es im Haus ziemlich streng roch, dämmerte mir, was kommen würde. Etwas, das nach meinem Empfinden nach furchterregenden 500 Kilogramm Walrossfleisch aussah, lag auf dem Tisch und wartete darauf, verzehrt zu werden.

 

Grönländischer Hauptgewinn

Ich kann nicht behaupten, dass es die grönländische Küche ist, die mich immer wieder in den Norden treibt. Der Hunger ist dort oben sicher einer der besten Köche, und ausserdem gewöhnt man sich an alles. Die erste Robbe war nicht gerade der Hit. Das erste Walross erst recht nicht. Walrossfleisch ist noch zäher und faseriger ─ und schon freut man sich wieder auf Robbenfleisch. Und inzwischen freue ich mich tatsächlich, wenn es Robbenfleisch gibt. Am besten aber finde ich Mattaq, die Haut der Narwale, die roh gegessen wird. Und auch das Fleisch des Narwals schmeckt ausgezeichnet. Meistens wird es in Wasser und Blut gekocht. Auf dem Eis oder bei Festen im Dorf wird es manchmal auch roh verspeist. In den meisten Haushalten setzt man sich nicht zusammen an den Tisch um zu essen. Jede/r isst, wann er oder sie Hunger und Zeit dazu hat. Im Wohnraum wird aber regelmässig gemeinsam Kaffee getrunken und gespielt. Meist spielt man Bingo oder «Olsen», ein Kartenspiel. Ein solches Kartenspiel hat mir vor vielen Jahren Savissivik einen grossen Sieg beschert. Das kam so. Als ich zu meinen morgendlichen Erledigungen aufbrach, sah ich, dass vor Magnus Eliassens Haus die Grönlandflagge hing ─ jemand hatte Geburtstag. Im Laden lag auch schon die Geschenkpapier auf dem Tresen ─ Carl, Magnus‘ Sohn feierte seinen elften Geburtstag. Ich stattete der Familie einen Besuch ab, wir tranken Kaffee und Carl spielte auf seiner Gitarre. Danach spielten wir Olsen und siehe da, ich gewann in meiner Gruppe. Spät am Abend wurde ich abermals zu Eliassens beordert. Man erklärte mir, dass nun alle Gruppensieger gemeinsam im grossen Finale spielten. Da die meisten Teilnehmer schon etwas angetrunken waren, gewann ich auch dieses. Magnus überreicht mir meine Siegerprämie: ein Gummiband, ein Bettüberzug, eine Kerze und 30 dänische Kronen. Dann zeigte er feierlich aus dem Fenster. Draussen sehe ich aber nur das Fell eines kürzlich erlegten Eisbären. Alle lachen. Sie meinen es ernst. So wurde ich stolzer Besitzer eines echten Eisbärenfells. Auf dem Rückflug nach Qaanaaq hatte mein Gepäck Übergewicht. Das Fell war noch voller Fett und wog vermutlich mehr als 50 Kilo. Air Greenland gestattet aber nur 20 Kilo. Der Flughafenverwalter Odaq, der zugleich auch Manager des Ladens, der Post und der Bank war und ausserdem einer der Finalisten des Olson-Spiels, legte das Fell auf die Waage. Diese reichte aber nur bis 20 Kilo. Odaq schmunzelte und bestätigte die 20 Kilo. Das Fell liess ich in Qaanaaq zurück, wo Hosen und Kamiks daraus angefertigt wurden. Die Hosen trage ich immer wenn ich in Qaanaaq aufs Eis gehe. Die Kamiks stehen heute im Nordamerika Native Museum (NONAM) in Zürich.

 Kehrseiten

Nicht alle Besuche bei den Familien sind heiter. Wenn Alkohol ins Spiel kommt, kann es schnell ungemütlich werden. Väter und Mütter trinken, bis sie nicht mehr wissen, was sie tun. Die Kinder beobachten die Erwachsenen sehr genau und schauen ihnen in die Augen, bevor sie sich ihnen nähern. Vor einigen Jahren kam es zu einer Tragödie, wie sie in Grönland allzu oft vorkommt. Mein Freund Simon Eliassen kam zurück von einer erfolgreichen Jagd.  Er und seine Frau Bolethe feierten eine Party, es wurde getrunken. Was genau geschah, ist unklar, und wie üblich gibt es verschiedene Versionen. Tatsache ist, dass eine betrunkene Frau ihren ebenfalls betrunkenen Mann tötete. Eine Familie mit jungen Kindern und Enkelkindern wurde auseinandergerissen. Die Kinder wurden auf andere Familien verteilt oder kamen nach Qaanaaq auf die Schule. Die Mutter kam für mehrere Jahre ins offene Gefängnis in Ilulissat. Simon wurde in Savissivik beerdigt. Bolethe lebt heute in Qaanaaq und arbeitet im Supermarkt. Die Kinder sind inzwischen selber Eltern oder besuchen eine Schule weit weg von Qaanaaq.

 Fehlende Perspektiven

Kronprinz Frederik von Dänemark gründete schon vor Jahren einen Jugendclub in Qaanaaq, damit die Kinder und Jugendlichen einen Ort haben, wo sie sich treffen können. Vor allem, wenn es zuhause unerträglich wird. Am Abend bin ich in diesem Jugendclub mit Abel zum Billard spielen verabredet. Abel ist Hans Jensens Enkelsohn. Als ich ankomme, gibt es gerade einen Vortrag über die Gefahren im Umgang mit Alkohol und Drogen. Seit Jahren versucht die Regierung das Problem, das ganz Grönland betrifft, in den Griff zu bekommen. Aber das Leben in Qaanaaq bietet keine Perspektiven mehr. Früher lebte man dort, um Jäger zu sein, doch diese Zeiten sind vorbei. In Qaanaaq beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 80%. Es ist eine grosse Herausforderung für eine Gesellschaft, die am finanziellen Tropf Dänemarks hängt. Entweder man bezieht dänisches Arbeitslosengeld oder man verdient sein Geld mit Arbeit, die ebenfalls von den Dänen finanziert wird. Wozu also aufstehen und arbeiten gehen? 2010 habe ich Jäger um Interviews zum Thema Klimawandel gebeten. Natürlich wollte ich auch mit jungen Jägern sprechen. Aber in der ganzen Stadt gab es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen. Die Jagd bietet den Jungen keine Perspektiven mehr, und Alternativen gibt es hier kaum.Ein Junge kommt auf mich zu und fragt, ob ich ihn noch kenne. Leider muss ich verneinen. Kaum zu glauben, es ist Carl! Carl ist inzwischen 22 Jahre alt und lebt jetzt in Qaanaaq. Die Wiedersehensfreude ist gross. Die jungen Leute im Club erzählen alle dieselbe Geschichte. Einen Job haben sie hier nicht. Alle warten auf einen Ausbildungsplatz im Süden des Landes. Tagsüber hängen sie zuhause rum, abends kommen sie in den Club. Jäger will keiner mehr werden. Wozu auch, wenn man kein Geld damit verdienen kann. Vielleicht werden sie eines Tages Fischer.

 

Mehr als nur einfach nur ein Job

Mit der Fischerei liesse sich auch in Qaanaaq ein Auskommen verdienen. Aber der Beruf ist hart, denn hier wird vor allem an Eislöchern gefischt. Die Arbeit ist anstrengend und aufwendig. Mit den Hundegespannen fährt man in den Fjord. Leinen, die mehrere hundert Meter lang sind, werden mit Ködern bestückt und in ein Eisloch gelassen. Stunden später wird der Fang eingezogen und auf den Hundeschlitten gepackt. Das ist nicht jedermanns Sache. Toku, die einzige Berufsjägerin Grönlands ist zugleich auch Berufsfischerin. Sie hat den Eindruck, die Jäger wollen nicht fischen gehen, weil die Fischerei in ihren Augen nichts Rechtes ist.Ich verstehe die Jäger sehr gut. Wen das Gefühl der Freiheit und die Abenteuer des Lebens auf dem Eis ein Leben lang begleitet haben, der stellt nicht leichten Herzens um. Aber es geht um mehr als um romantische Gefühle oder die Berufsehre. In einer Kultur, in der sämtliche Vorfahren bis hin zum eigenen Vater Jäger waren, kann man nicht einfach den Job wechseln. Denn bei diesem Job geht es um weitaus mehr als das, was wir Job nennen. Es geht um Identität, um das Fortbestehen der eigenen Kultur oder um deren Ende.

 

Die letzten Jäger von Thule

Kulturen befinden sich stets im Wandel. Auch die Thule Kultur. Schon in den 1970er Jahren titelten Grönland-Reportagen «The last Hunters of Thule», «Die letzten Jäger von Thule». Auch meine Reportagen wurden von den Magazinen so betitelt. Für die Inuit ist es längst zu einem running gag geworden. Immer  wenn ich nach Grönland komme, will Hans Jensen wissen, für wen ich nun wieder die letzten Jäger aus Thule fotografiere. Die aber wollen einfach nicht aussterben. Inzwischen machen sich aber sogar Hans und Gedion Sorgen um ihre Kultur. Denn wenn die Jungen nicht mehr Jäger werden wollen, geht das Herzstück einer grossartigen Kultur langsam, aber unaufhaltsam verloren. Dennoch kann man es ihnen nicht verübeln. Wer wäre schon bereit, sein Leben einer Aufgabe wie dieser zu widmen, mit all ihren Risiken und Gefahren, wenn man nicht davon leben kann. Würden die Fangquoten und Exportverbote für die Inuit aufgehoben, sähe es vermutlich anders aus. Dann nämlich wäre das Auskommen der Jäger gesichert, und damit auch das Überleben einer Jahrtausende alten Kultur. In den Magazinen könnte man dann vielleicht noch jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang von den «letzten Jägern von Thule» lesen ─ imaqa.

 Nachtrag

Mich selbst zieht das Leben der Thule Eskimos seit nunmehr 18 Jahren in seinen Bann. So weit entfernt es auch sein mag, es hat doch auch viel mit meiner eigenen Welt zu tun und mit der Gesellschaft, in der ich lebe. In der Schweiz ist nachhaltige Ernährung gerade voll im Trend. Aber wie nachhaltig kann diese Ernährung tatsächlich sein, solange krumme Rüben und Gurken, Äpfel, die nicht der Norm entsprechen und ausgediente Legehennen in den Biogasanlagen unseres Landes verheizt und in Strom umgewandelt werden? Auch der Begriff der «artgerechten Nutztierhaltung» ist ein Widerspruch in sich. Kann Nutztierhaltung artgerecht sein? Wirklich artgerecht ist das Leben einer grönländischen Robbe, auch wenn sie eines Tages an ihrem Atemloch erlegt wird. Und nachhaltige Ernährung ist es obendrein. Alles wird verwertet und gerecht verteilt. Menschen und Tiere profitieren davon. Gejagt wird nur, was auch gegessen werden kann. Wer wie ich das Leben der Thule Inuit mit erlebt hat, kann weder die ihnen auferlegten Quoten, noch die Exportverbote auf fast alle grönländischen Produkte nachvollziehen. Es scheint, als schützten wir die Tiere in der Arktis, um uns zu profilieren ─ und weil wir dabei auf nichts verzichten müssen. Dabei sind manche Tiere, wie etwa Robben, gar nicht vom Aussterben bedroht. Für andere mag es zutreffen, aber nicht wegen der traditionellen Jagd der Thule Jäger. Wenn sie tatsächlichbedroht sind, dann wegen dem von den Industrienationen zu verantwortenden Klimawandel und der westlichen Gier nach Rohstoffen mit all ihren Folgen, wegen industrialisierter, auf Masse ausgerichteter Fangmethoden, wegen radioaktiver und chemischer Verschmutzung der Meere oder anderer gravierender Umweltaspekte.

 

 Hätten Greenpeace und WWF dieselben Erfolge mit Kampagnen gegen die Abschlachtung von Babykühen oder die Vergasung von Babyküken erreicht? Und würden bürgerliche Politiker auch dann noch Statements gegen die Robben- und Waljagd abgeben, wenn sie dann auch auf ihre Kalbsbratwurst verzichten zu müssten?