Bühnen der Natur
Am Anfang war es die Anziehungskraft des Waldes. Erst führte sie zu Spaziergängen und Wanderungen. Später, vor etwa zwanzig Jahren, begann ich, mit der Kamera auch im Wald zu fotografieren, noch ohne zu wissen, wohin dies führen würde. Die entdeckten Szenerien und erlebten Stimmungen waren Grund genug, den Wald zu dokumentieren. Jeweils ab April streifte ich durch die Wälder des Mittellands und wartete ungeduldig, bis sich der Schnee in den Bergen zurückgezogen hatte. Vor einiger Zeit ging ich dazu über, ganzjährig im Wald zu fotografieren. Schließlich sind es weniger die Jahreszeiten, die einen Wald prägen, als vielmehr dessen höhenbedingte klimatische Situation. So führt dieses Buch entlang aufsteigender Höhenmeter vom Talboden in die Berge.
Die Vielfalt der Wälder ist groß. In der Schweiz reicht sie von Mischwäldern mit Buchen, Tannen, Eschen, Erlen und meiner persönlichen »Königin«, der Eiche, bis zu Bergwäldern mit Fichten, Arven, Lärchen. Es sind aber nicht die einzelnen Baumarten, die mich begeistern, sondern die Eigenschaften des jeweiligen Waldes. Die Mischwälder im Mittelland sind oft so dicht zugewachsen, dass man den Horizont nur selten zu Gesicht bekommt und bei Schlechtwetter auch tagsüber kaum etwas sieht. Totholz und Büsche versperren Wege und machen sie fast unpassierbar. Manchmal ist es beruhigend zu wissen, dass hierzulande keine wilden Raubkatzen leben, derart tropisch mutet die Umgebung an. In den Bergen wiederum entsteht ein besonderes Zusammenspiel zwischen Wald, Fels und Berg. An schier unmöglichen Stellen wachsen Bäume aus dem Gestein. Der Blick in bewaldete, felsige Täler erinnert bisweilen an die weiten Landschaften Nordamerikas.
Gerne nenne ich die Wälder »Bühnen der Natur«. Welch atemberaubende Kulissen! Wie ist es nur möglich, dass durch das Zusammenspiel verschiedenster Pflanzen, Topografien und klimatischer Bedingungen derart wundervolle Szenerien entstehen?
Im Wald sehe ich eindrücklich den Kreislauf des Lebens, der sich vor meinem Auge abspielt wie auf einer Bühne, sei es eines Kleintheaters oder eines Opernhauses. Stirbt ein Baum und stürzt er zu Boden, fällt durch die Lücke im Kronendach wieder Licht auf die Erde. In diesem Licht gedeihen neue Pflanzen. Selbst aus dem abgestorbenen Baum erwächst Neues. Und das Totholz wird zu Erde und bietet Nährstoff für neues Leben. Nichts stirbt für nichts, und nichts wird aus nichts geboren. Alles Leben steht in einem unmittelbaren Verhältnis zueinander. Spielt sich die Antwort auf die Frage aller Fragen, was nach dem Tod sein wird, Tag für Tag direkt vor unseren Augen ab?
Ich habe gelernt, dass ich, will ich diese kraftvolle Welt in Bildern festhalten, meine Arbeitsweise anpassen muss. Ich laufe mit offenen Augen und offenem Geist und warte, bis eine dieser »Schaubühnen der Natur« ihren Vorhang vor mir öffnet. Fast so, als würde das Bild mich suchen.
Immer bestimmt das Zusammenspiel aus Licht und Szenerie, ob eine Fotografie entsteht oder nicht. Die meisten Wälder habe ich unzählige Male besucht. Und jedes Mal ist derselbe Wald ein anderer. Suche ich Stellen erneut auf, finde ich sie kaum wieder, da sie in anderem Licht wie verwandelt sind. Oft verharre ich stundenlang an einer Stelle und beobachte, wie sich die Szene im Wandel des Wetters verändert. Und plötzlich kommt das Licht. Ohne große Vorankündigung, als beleuchteten Scheinwerfer eine Bühne. Mal wild und kräftig, mal sanft und leise. Oder es geht.
Oft werde ich gefragt, wo man die schönsten Wälder findet. Zweifellos ist das Hintere Lauterbrunnental sehr beeindruckend. Ein wuchtiges Tal mit Wasserfällen, Wäldern und Bergen – eine Szenerie wie geschaffen für einen großen Spielfilm. Großartig ist auch der Wald in Flims. Dieser hat sich vor etwa zehntausend Jahren nach einem Bergsturz über dem Geröll gebildet. Manchmal sind die schönsten Wälder auch mit einem eindrücklichen Erlebnis verbunden. Wie einmal im Frühjahr, auf dem Weg von Netstal zum Klöntalersee, als die Wälder schon kräftig grün waren: Dichte Wolken hingen über dem Tal und gaben hin und wieder die Sicht frei auf die noch verschneiten Berge in der Ferne.
Man muss aber nicht weit gehen für einen schönen Wald. Egal, wo man lebt. »Mein« Wald etwa liegt nur wenige Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Ein kleines Waldstück, eine Mini-Aue entlang der Thur: keine fünfzig Meter breit und vielleicht wenige Hundert Meter lang. Dieses Waldstück steht immer wieder unter Wasser. Eine wilde, fast tropische Landschaft wächst heran.
Geht man mit offenen Sinnen durch den Wald und nimmt man sich Zeit, ihn zu beobachten und das Schauspiel auf sich wirken zu lassen, dann ist der schönste Wald immer der, in dem man sich gerade befindet.